Reinhard Schult-ein Nachruf

von Stefan Wolle

 

Reinhard Schult wurde am 23.9.1951 in Berlin geboren. Seine Mutter war Krankenschwester. Sch. war Mitglied der Jungen Gemeinde in Berlin-Mahlsdorf und machte von 1968 bis 1971 eine Berufsausbildung als Maurer mit Abitur in einer Betriebsberufsschule in Berlin-Oberschöneweide. Noch als Schüler trat er aus der FDJ aus und verweigerte den Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee. Von 1971 bis 1972 studierte er Theologie im Sprachenkonvikt und arbeitete dann als Bauarbeiter und Heizer. 1976 bis 1978 war er Bausoldat. 1979 wurde er wegen Beihilfe zur Republikflucht und Verbreitung staatsfeindlichen Schrifttums (Biermanntexte u.a.) verhaftet und wegen „öffentlicher Herabwürdigung“ zu acht Monaten Haft verurteilt. Seit dieser Zeit war Sch. in verschiedenen oppositionellen Gruppen tätig, u.a. ab 1985 in der Menschenrechtsgruppe „Gegenstimmen“, seit 1987 in der „Kirche von unten“. Am 9. September 1989 gehörte er zu den Erstunterzeichnern des Aufrufs „Aufbruch 89 – Neues Forum“ und seitdem zum Berliner Arbeitsausschuß des Neuen Forum, das er am Zentralen Runden Tisch vertrat. Er gehörte zu den Initiatoren der Demonstration vom 15. Januar 1990, die zur Besetzung der Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg durch Demonstranten führte. Er vertrat das Neue Forum in der Arbeitsgruppe Sicherheit des Zentralen Runden Tisches, die mit der Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit beauftragt war. Ab März 1990 leitete er die „Operative Gruppe“ des Staatlichen Komitees zur Auflösung des MfS, in der sich die Aktivisten der Bürgerkomitees zusammengefunden hatten. Im September 1990 beteiligte er sich an der Besetzung des Archivs und dem Hungerstreik, der die Auslagerung der Akten ins Bundesarchiv verhinderte. Von 1991 bis 1995 war Sch. im Berliner Abgeordnetenhaus als Abgeordneter der Gruppe Neues Forum/Bürgerbewegung. Nach Ablauf der Legislaturperiode war er arbeitslos. Er lebt seit 1997 zusammen mit der ehemaligen PDS-Abgeordneten Karin Dörres in Fredersdorf in der Uckermark. Er betreibt dort Landwirtschaft sowie ein Restaurant und ist stellvertretender Bürgermeister der Gemeinde.

Stefan Wolle, 2021

Reinhard Schult

 

Seit 1997 lebt Reinhard Schult zusammen mit seiner Freundin und zwei Kindern in Fredersdorf bei Gramzow, einem winzigen Dorf in der Uckermark. Dort steht er an fünf Abenden in der Woche hinter dem Tresen der Gaststätte „Zur Linde“ und läßt sich von den Kneipenbesuchern erzählen, was es Neues im Ort gibt. Die Bauern haben inzwischen Zutrauen zu dem Neuankömmling aus der Stadt gewonnen und ihn bei der Kommunalwahl im Jahre 1998 zum stellvertretenden Bürgermeister der hundertvierzig Einwohner zählenden Gemeinde gewählt. Neben dieser ehrenamtlichen Tätigkeit kümmert er sich auf seinem Hof um das Federvieh und die Schafe, baut Gemüse und Obst an und widmet sich der Ausbesserung seines rund zweihundert Jahre alten Fachwerkhauses. Wer ihn in Arbeitskluft zwischen Hühnerstall und Gemüsebeet sieht, mag an einen verbannten Volkstribunen oder an Kaiser Diokletian denken, der sich angewidert vom sittenlosen Treiben der Römer nach Dalmatien zurückzog, um dort Melonen zu züchten.

Doch wer Schult für einen resignierten Aussteiger hält, hat nichts vom Wesen der DDR-Opposition begriffen. Niemals ging es da um Posten und Karrieren. Im Grunde ging es nicht einmal um Politik im engen Sinne des Wortes sondern um Verweigerung und Selbstachtung. „Die Opposition in der DDR war eine kleine Opposition“, schrieb Reinhard Schult rückblickend im Jahre 1995. Fast kannte jeder jeden. Die Hoffnung, das SED-Regime zu stürzen, hatte niemand von uns. Es ging um etwas mehr Luft in dieser miefigen DDR, um etwas mehr Bewegungsfreiheit in der Zwangsjacke. Wir waren eine verschwindende Minderheit – ohne Rückhalt in der Bevölkerung.“ Und Reinhard Schult gehört zum Urgestein jener DDR-Opposition, die sich seit den siebziger Jahren im Schutzraum der evangelischen Kirchen sammelte

Der Konflikt mit der DDR-Obrigkeit war für den 1951 in Berlin geborenen Reinhard Schult von frühester Kindheit an selbstverständlich. Seine Mutter war Krankenschwester im Krankenhaus Berlin-Kaulsdorf. In dem östlichen Randbezirk von Berlin wohnte auch die Familie. Als die Mauer gebaut wurden, saßen sie bereits auf gepackten Koffern, um in den Westen zu gehen. Sie hatten schon die Flugkarten von Westberlin in die Bundesrepublik gekauft. Dann schlug die Falle zu und es wurden lange Zeit Pläne geschmiedet, wie man doch noch in den Westen kommen könnte. Es gab dort eine zahlreiche Verwandtschaft und schon in der Schule galt Reinhard Schult als „westlich eingestellt“. Er las lieber die verbotenen Mickey-Mouse-Hefte als die Pionierzeitschrift „Trommel“. Der lange Abschied von der Staatsideologie, die Brüche und Konflikte mit dem Elternhaus und die qualvolle Lösung aus den Armen der Partei, die für viele kritische DDR-Intellektuelle so typisch waren, blieben Schult erspart. In der Jungen Gemeinde in Berlin-Mahlsdorf fand er einen verständnisvollen Pfarrer, der eine interessante Jugendarbeit machte. Schult überzeugte die ganze Klasse, einschließlich des FDJ-Sekretärs, geschlossen zu einer Kirchenveranstaltung zu gehen und löste damit den ersten Skandal seiner Laufbahn aus. In der zwölften Klasse trat er aus der FDJ aus und verweigerte bei der Musterung den Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee. Doch an der Betriebsberufsschule des Wohnungsbaukombinats in Berlin-Oberschöneweide wurde wohl manches nicht so verbissen gesehen wie an einer Erweiterten Oberschule. Immerhin konnte Schult 1971 dort neben der Facharbeiterprüfung als Mauer das Abitur ablegen. Danach begann er ein Studium der Theologie am Sprachenkonvikt in Berlin. Nach einigen Monaten erkannte er, auch hier am falschen Ort zu sein. Mittlerweile junger Familienvater ging er auf den Bau, wo man für damalige Verhältnisse ganz gut verdiente. 1976 wurde er für achtzehn Monate als Bausoldat eingezogen. Nach seiner Rückkehr begann er, in oppositionellen Zirkeln und Grüppchen tätig zu werden. Er trat mit Freunden in Kirchen auf, wo sie Lieder und Texte von Biermann, Kunze und anderen Schriftstellern vortrugen. 1979 wurde ein Bekannter beim Versuch, die DDR zu verlassen verhaftet. Beim Stasi-Verhör beschuldigte dieser seinen Freund, in die Fluchtvorbereitungen eingeweiht gewesen zu sein, so daß Schult am 13. August 1979 unter dem Vorwurf der Beihilfe zur Republikflucht verhaftet wurde. Vor Gericht nahm sein Bekannter die belastenden Aussagen zurück, so daß dem wutentbrannten Staatsanwalt nur noch der Anklagepunkt „öffentliche Herabwürdigung“ blieb. Wegen einer Nummer der Zeitschrift „Roter Morgen“ der KPD/ML und Texten von Biermann wurde Schult zu neun Monaten Freiheitsentzug verurteilt. Weniger konnte man ihm nicht geben, weil er diese Zeit schon in Untersuchungshaft abgesessen hatte. Bei seiner Haftentlassung wurde ihm bedeutet, daß ein Ausreiseantrag gute Chance hätte, schnell genehmigt zu werden. Doch nun wollte Schult nicht mehr. Er stürzte sich in das damals aufblühende Treiben der Friedens- und Umweltgruppen, nahm 1980 an dem Friedensseminar in Königswalde teil, organisierte Diskussionsforen ehemaliger Bausoldaten, auf denen für die Verweigerung des Dienstes an der Waffe geworben wurde, arbeitete im Friedenskreis der Evangelischen Studentengemeinde mit, bildete einen Diskussionskreis zur Geschichte der KPD und einen Karl-Marx-Kreis. Ab 1985 war er in den Gruppe „Gegenstimmen“, seit 1987 in der „Kirche von unten“. Die unbekümmerte Mixtur von christlichen und linksradikalen Ideologiefragmenten gehörte zum Erscheinungsbild der Opposition jener Jahre. Der Gestus war hier wichtiger als die theoretische Stringenz. Am 7. Mai 1989 beteiligte er sich aktiv an der landesweiten Organisation der Aufdeckung der Wahlfälschung. Am 9. September 1989 schließlich gehörte er zu den neunundzwanzig Erstunterzeichnern des Aufrufs „Aufbruch 89 – Neues Forum“. Im Neuen Forum versuchte er in den folgenden Monate die basisdemokratischen Ideale hoch zu halten. Durch die Fernsehübertragungen der Sitzungen des Zentralen Rundes Tisches und zahlreiche andere öffentliche Auftritte wurde er im ganzen Land bekannt. Stets mürrisch und schlecht gelaunt brachte er im Berliner Proletenslang die Dinge auf den Punkt und zerstörte das Harmoniegesäusel der alten Obrigkeit. Am 15. Januar 1990 gehörte er zu den Organisatoren der Demonstration vor der Stasi-Zentrale in der Ruschestraße, die mit der Besetzung des Gebäudekomplexes durch Demonstranten endete. In den folgenden Monaten vertrat er das Neue Forum in der Arbeitsgruppe Sicherheit, welcher die Auflösung des MfS kontrollierte. Nach der Volkskammerwahl und der Einsetzung eines Staatlichen Komitees für die Auflösung der Staatsicherheit unter der Dienstaufsicht des neuen Innenministers Peter-Michael Diestel, bildete Schult eine eigene Gruppe innerhalb der Behörde, die den Geist der Bürgerkomitees aufrecht zu erhalten suchte. In den Monaten bis zur staatlichen Vereinigung zeichnete sich bereits jene für die kommenden Jahre typische Symbiose zwischen dem Beamtenapparat aus dem Westen und den alten DDR-Seilschaften ab. Leute wie Schult störten diese neue Eintracht. Und er tat es gründlich. Als der Plan des Bundesinnenministers bekannt wurde, die Archive des MfS ins Bundesarchiv nach Koblenz zu verschaffen und dort unter Verschluß zu halten, besetzten Schult und seine Gruppe symbolisch einige Räume des Archivs der Staatssicherheit. Die Polizei riegelte das Gelände ab und bereitete sich zum Sturm vor. Wieder standen die Oppositionellen gegen die Staatsmacht. Es waren die alten Uniformen und die alten Kader, nur das sie inzwischen unter dem Befehl des CDU-Innenministers Diestel standen. Ein Besuch der Volkammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl am Ort des Geschehens entspannte die Situation. Die Besetzer traten nun in den Hungerstreik, um den Verbleib der Akten in der DDR durchzusetzen. Als die Volkskammer über die Frage debattierte, erschienen Schult und einige Freunde im Plenarsaal. Unrasiert und gezeichnet vom Hungerstreik stand er im Blitzlichtgewitter. Unter dem Druck dieser Aktionen beschloß das DDR-Parlament den Verbleib der Akten in Berlin und die Einsetzung eines Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes. Die Bürgerbewegung erzielte damit einen letzten großen Erfolg. Schult wurde am 2. Dezember 1990 auf der Liste des Bündnis 90/Die Gründen ins Berliner Abgeordnetenhaus gewählt. Doch der Kreis der DDR-Bürgerrechtler war klein geworden und schmolz weiter zusammen. Sie trennten sich von der Fraktion und bildeten eine Abgeordnetengruppe mit dem Namen Neues Forum/ Bürgerbewegung. Nach dem Ende der Legislaturperiode im Jahre 1995 wurde Schult arbeitslos, meldete sich schließlich beim Sozialamt. Für Rebellen gibt es keine Versorgungsansprüche. Schult hat das immer gewußt und sich nie darüber beklagt.

Von einem Rückzug aus der Politik will er auch heute nichts wissen. Er kümmert sich im Landkreis um rechtsradikale Jugendliche, schreibt gelegentlich in Zeitungen, ist in den Medien präsent und im übrigen Mitglied des Arbeitsausschusses des Neuen Forum Berlin. Daß die einstige Volksbewegung nur noch ein Schatten ihrer selbst ist, ficht ihn dabei wenig an. Wo er ist, ist das Volk – auch wenn er ganz allein ist.

 

Stefan Wolle, 2000